Lern- und PrüfungstippsEin Körnchen Optimismus

„In einem Jahr seid ihr dran.“ Frau Qasim steht entspannt vor der Klasse, die Hände locker in die Hosentaschen gesteckt. „Die Zeit vergeht schneller, als ihr denkt.“ Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht, bevor sie sich langsam zum Pult bewegt. Ich starre auf mein Tablet, das schwarze Display spiegelt mein eigenes, genervtes Gesicht. Noch ein ganzes Jahr bis zur Abschlussprüfung, wieso dieser Stress? Muss man uns jetzt schon verrückt machen? Wir sind immerhin erst in der 9. Klasse. Frau Qasim öffnet ihr Schreibprogramm auf dem Tablet und fängt an zu schreiben. Gleich kommen die üblichen Floskeln: Lerne rechtzeitig! Wiederhole alles! Glaub an dich! Ich gähne innerlich. Sie sieht nicht mal auf, sondern spricht einfach weiter, während sie schreibt:

Tipps für die Abschlussprüfung!

„Und weil ihr euch das sowieso nicht alles merken könnt, dürft ihr das jetzt mitschreiben“, sagt Frau Qasim mit einem Augenzwinkern. Ich seufze, greife widerwillig zum Stift und beginne, diesen offensichtlich von einer KI zusammengestellten Hefteintrag abzuschreiben. Vielleicht ... vielleicht ist ein Jahr doch schneller vorbei, als man denkt. Und vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn einem jemand den Weg zeigt, bevor es ernst wird. Trotzdem: Einen Text über Prüfungen in der sechsten Stunde an einem Freitagnachmittag mitschreiben zu müssen, fühlt sich einfach falsch an. Vor allem über ein Thema, das erst in einem Jahr relevant ist. Motivation ist überbewertet. Das deutsche Schulsystem in a nutshell. In drei Minuten läutet es. Ich gebe Gas, kritzle die letzten Wörter aufs Papier. „Ordnungsdienst kehrt noch!“ Frau Qasims Stimme schneidet durch den steigenden Lärmpegel, während die Ersten schon hastig ihre Taschen packen. Oh nein. „Milan, du bist heute dran", ruft sie jetzt fast schreiend durch den Tumult. „Schaffst du’s allein?“ Ich nicke widerwillig, schnappe mir den ranzigen Besen aus der Ecke und stelle mich meinem Schicksal. Die Klasse löst sich lärmend ins Wochenende auf. Ich bleibe zurück. Meine Freunde, solidarisch wie immer, stehen noch lachend im Türrahmen und zeigen auf mich, bevor sie endlich verschwinden. Dann wird es ruhig. Nur das Klicken von Frau Qasims Stiften, die sie sorgfältig in ihre Tasche sortiert, ist noch zu hören.

„Hallo“, sagt jemand. Im Türrahmen steht Ben, ein Schüler aus der 10. Jahrgangsstufe. Groß, entspannt, so einer, bei dem selbst Mathe aussieht, als wär’s ein Spaziergang. „Hey, Ben! Und, wie läuft’s?“  Frau Qasims Miene hellt sich auf.

Ben zuckt mit den Schultern. „Joah, drei Tage noch, dann ist’s vorbei.“ Seine Stimme klingt erstaunlich gelassen. Frau Qasim nickt und sieht kurz von ihrer Tasche auf. Dann schaut sie erst ihn, dann mich an und sagt: „Vielleicht kann Ben dir ja ein paar Tipps geben. So aus erster Hand. Ist manchmal hilfreicher als alles, was wir Lehrer sagen.“  Ben grinst. Er lehnt sich locker an den Türrahmen und schaut mich an, als hätte er auf genau sowas gewartet.

„Klar. Also erstens: Lass dich nicht verrückt machen. Alle tun so, als wäre das Leben vorbei, wenn du bei der Abschlussprüfung nicht ablieferst. Ist aber Bullshit. Keiner fragt dich später, ob du in Englisch eine Zwei oder eine Drei hattest.“  Er wirft einen kurzen Blick zu Frau Qasim, als wollte er checken, ob er das so sagen darf. Sie bleibt stumm, beobachtet ihn mit diesem typischen Lehrerblick, tadelnd, aber nicht wirklich streng.

„Zweitens: Lern smart. Nicht stundenlang auf die dieselben Karten glotzen. Such dir die Sachen raus, die wirklich wichtig sind. Alte Prüfungen, Zusammenfassungen, die Basics eben. Und dann: üben, aber locker bleiben. Verkrampft merkt man sich eh nix.“ Ich nicke. Klingt vernünftig. Anders als diese typischen 'Lern frühzeitig und mach dir Pläne'-Tipps, die ich schon hundertmal gehört habe.

Drittens: Mach Pausen. Ehrlich, wenn du dich nach einer Stunde gar nicht mehr konzentrieren kannst, bringt’s nichts, da noch wie ein Zombie zu sitzen. Geh raus, chill kurz. Danach geht’s besser weiter.“  Frau Qasim schließt langsam ihre Tasche, beobachtet uns noch immer schweigend. Ihr Blick bleibt ernst, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zustimmend nickt, ganz unauffällig.

„Danke.“, sage ich.

„Kein Ding“, meint er, schiebt sich vom Türrahmen ab und schlendert davon.

Aylin Qasim

Aylin Qasim

Aylin Qasim unterrichtet Deutsch und Geschichte an einer Münchner Realschule und berichtet regelmäßig über ihre Eindrücke und Erfahrungen aus dem Lehrerinnenalltag.

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