Lehramtsstudium & InklusionMehr Verständnis im Miteinander

Seit dem Wintersemester 2021 / 2022 wird an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) für Studierende aller Schularten das Erweiterungsstudium „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“ angeboten. 

Theresa Marquart ist eine von knapp 70 Studierenden, die das Erweiterungsfach belegt haben. Im Interview erzählt sie, wieso sie sich für das Fach entschieden hat und gibt angehenden Lehrkräften nützliche Tipps. 

Wieso hast du dich für das Erweiterungsfach „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“ entschieden?

An dieser Stelle muss ich sagen, dass es für mich von Anfang an sehr klar war, das Erweiterungsstudium anzutreten, sobald dieses angeboten wurde. Ich bin mit dem Thema Autismus-Spektrum-Störungen bereits seit Jahren konfrontiert und dementsprechend hat es sofort mein Interesse geweckt.

Zum einen spielt mein familiärer Hintergrund eine Rolle. Mein Cousin hat eine Autismus-Diagnose, er erhielt damals noch die Diagnose „Asperger“. Als Kind habe ich nicht gewusst, dass mein Cousin ein Autist ist und fand deshalb einige seiner Eigenarten etwas „sonderbar“. Erst später wurde mir von der Diagnose erzählt und ich begann vieles besser zu verstehen. Hier wurde ich zum ersten Mal damit konfrontiert, dass man als Außenstehende/-r eine Menge „missverstehen“ kann, wenn man keine Erklärung dafür hat, warum sich jemand so verhält wie er sich verhält.

Zum anderen begegnete ich im Studium häufig dem Thema „Autismus-Spektrum-Störungen“. Erstmals sowohl durch schulische als auch außerschulische Praktika. Hier traf ich autistische Kinder und Jugendliche an heilpädagogischen Tagesstätten, Regelschulen, Förderschulen für geistige Behinderung, Schulen für Kranke und Förderschulen für emotionale soziale Entwicklung. Ebenso hatte ich im Rahmen eines Praktikums an einer Fortbildung für Autismus teilgenommen. Durch die Praktika summierten sich die Erfahrungen, dass kein/e Autist*in wie der/die andere ist. Jedes Kind und jeder Jugendliche, dem ich begegnete, war absolut einzigartig – nicht umsonst sprechen wir hier von „Autismus-Spektrum-Störungen“. Zudem sind Autist*innen natürlich jede/-r für sich einzigartig – so wie alle anderen Menschen eben auch.

Das Erweiterungsstudium ist für mich ein sehr wertvoller, längst überfälliger Beitrag im Rahmen der Bildung von Lehrkräften, sowohl an Förderschulen als auch an Regelschulen.

Zusätzlich hatte ich mich mit der Thematik nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie vielseitig auseinandergesetzt. In meinem Studium der Sonderpädagogik mit der Fachrichtung „Pädagogik bei Verhaltensstörungen“ wird Autismus wie alle anderen Störungsbilder in Seminaren und Vorlesungen behandelt. Als an unserem Lehrstuhl damals noch die Zusatzqualifikation „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“ angeboten wurde, belegte ich bereits einige Seminare davon. Im Folgesemester begann schließlich der neue Studiengang mit eigenem Examensabschluss und ich schrieb mich dafür ein.

Was gefällt dir bisher besonders gut an dem Angebot?

Das Studium ist zum einen sehr praxisorientiert, erfordert einiges an Fallarbeiten und Praktika. Zum anderen bietet es einen großen Schatz an Theorie an. An dieser Theorie ist für mich das Interessanteste, dass es sich dabei nicht um eine schon „sehr alte“ Forschung handelt, sondern eher um eine „Forschung in den Kinderschuhen“, die eine unglaubliche Menge an neuen Studien zu bieten hat. Außerdem macht die Zusammenarbeit sowohl mit den Kommiliton*innen als auch mit den Dozent*innen sehr viel Spaß. Man spürt richtig, dass jeder mit Herz dabei ist, keine Seminarinhalte aus reinem Pflichtgefühl heraus abklappert, sondern hier schlichtweg ein freiwilliger Wissenshunger herrscht. Deshalb fühlt sich das Studium für mich nicht wirklich wie „Arbeit“ an, sondern ist für mich eine Leidenschaft.

Welche persönlichen Stärken sind im Lehramtsstudium aber auch besonders im Erweiterungsfach „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“ wichtig?

Es ist sehr wichtig Verständnis für Menschen mitzubringen, deren Verhalten etwas anders ist, als man es von den meisten im Alltag gewohnt ist.

Bevor man die ein oder andere Verhaltensweise abstempelt oder bewertet, sollte man sich immer wieder fragen, aus welchem Grund eine Person so handelt, fühlt und wahrnimmt, wie es bei ihr der Fall ist.

Um speziell auf Autist*innen einzugehen, sollte man beispielsweise nicht aus dem Blick verlieren, dass sie viele Gefühle, Bedürfnisse und Anliegen nicht anders ausdrücken können, wie sie es eben manchmal tun. Ein Verhalten erfolgt niemals aus beabsichtigter Provokation heraus, stattdessen ist eher eine Unterstützung in der sozialen Kommunikation erforderlich. Außerdem ist es wichtig, einige Aussagen und Verhaltensweisen nicht persönlich zu nehmen. Kein/e Autist*in möchte jemanden absichtlich verletzen, sondern häufig treffen sie für sich Aussagen von Fakten, welche lediglich auf ihrer Wahrnehmung basieren, und verstehen nicht, wie der ein oder andere Ausruf beim Gegenüber ankommen könnte. Wenn zu viel an Reizen und Lärm vorhanden ist und der/die Autist*in sagt „Sie haben gerade eine nervige, hohe Stimme!“, dann ist das nur die subjektive Beschreibung seiner oder ihrer Wahrnehmung und keine Provokation oder Ähnliches.

Zudem ist es wichtig, sich nicht von eventuell bisher übernommenen Klischees leiten zu lassen. Nein, nicht jeder, welcher zurückgezogen ist oder eine Zwangssymptomatik aufweist, ist gleich ein/e Autist*in. Und nein, Autist*innen haben nicht alle ein fotografisches Gedächtnis oder sind die realen Exemplare von Sheldon Cooper. Einige gibt es, mit Sicherheit, der prozentuale Anteil ist jedoch extrem gering. Es gibt so viele unterschiedliche Ausprägungen und Charaktere aus dem „Spektrum“, dass ich es für mich persönlich auch sehr bedeutend finde, nicht alles mit der „Diagnose-Brille“ zu betrachten, sondern einfach den Menschen, der da vor mir steht. Diagnose hin oder her.

Wenn man in der Praxis mit Autist*innen arbeitet oder interagiert, ist es außerdem entscheidend, auch auf sein eigenes Verhalten zu achten. Im Alltag oder in der Schule sollte man für Struktur, häufig eine reizarme Umgebung und eine gelingende Kommunikation sorgen. Zudem sollte man auf die eigene Sprache und Ausdrucksweise achten. Klare Aussagen anstelle von Fragesätzen („Räume bitte auf!“ anstatt „Kannst du bitte aufräumen?“) und der Verzicht auf Ironie, Sarkasmus und spontane Witze sind Aspekte, die berücksichtigt werden müssen.

Außerdem sollte man ein Interesse an der Einzelperson mitbringen. Um die Person vor sich zu verstehen, ist es wichtig, zum Beispiel herauszufinden, welche Interessen sie hat, welche Abneigungen, welche Stärken und Schwächen vorhanden sind. Was ist das aktuelle Lieblingsessen? Welches Essen geht gar nicht? Gibt es eine Abneigung gegen bestimme Gerüche, taktile Reize, Farben oder Geräusche?

Neben grundliegenden Eigenschaften wie viel Ruhe, Einfühlungsvermögen und Geduld ist also das Interesse für den Einzelnen/ die Einzelne sehr wichtig.

Welche Tipps hast du für Personen, die sich für das Erweiterungsfach interessieren?

Viele, die sich für das Erweiterungsstudium interessieren, haben ihre eigenen Beweggründe, dies zu tun. Ich persönlich würde aber allen empfehlen, das Studium anzutreten. Wer mit viel Spaß und Freude, sowie Bereitschaft zum intrinsisch motivierten Arbeiten an die Sache herangeht, der wird die Entscheidung sicher nicht bereuen und auch in Zukunft sehr von dem Studium profitieren. 


 

Theresa Marquart

Theresa Marquart

Theresa Marquart schreibt im kommenden Semester ihr Staatsexamen im Studiengang Sonderpädagogik mit der Fachrichtung Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der LMU München. Daneben arbeitet sie an einer Schule für Erziehungshilfe. Seit letztem Wintersemester studiert sie außerdem das Erweiterungsstudium „Pädagogik bei Autismus-Spektrum-Störungen“.

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